175 Jahre Evangelische Kirche in Vollmarshausen

  

I. Kurzer Abriss der Baugeschichte

Über dem Seiteneingang der Evangelischen Kirche von Vollmarshausen lesen wir, sie sei 1838 erbaut worden. Über den Anlass für den Bau einer neuen Kirche und die Schwierigkeiten insbesondere bei der Finanzierung sind wir durch eine detailliert recherchierte Studie von Günther Kruse recht gut unterrichtet. Die von ihm herausgefundenen wichtigsten Tatsachen will ich noch einmal in Erinnerung rufen:

 

1. Die alte Kirche war baufällig. Für einen Abriss und einen Neubau hat sich nicht sosehr der Pfarrer, als vielmehr der Lehrer eingesetzt. Dabei mögen die vielfältigen Schwierigkeiten, die bei einem Kirchenbau zu bewältigen waren, den Pfarrer abgeschreckt haben. Wer anfängt zu bauen, begibt sich auf ein Minenfeld. Das war vor 175 Jahren nicht anders als heute.

2. Die Kurfürstliche Regierung in Kassel, zu der auch das Konsistorium, die Kirchliche Oberbehörde, gehörte, war mit Auflagen schnell bei der Hand, versprach aber nur einen kleinen Zuschuss von 200 Reichstalern. Die wichtigste Auflage bestand in der Raumgröße. Alle Einwohner sollten in der neuen Kirche einen Platz finden, damals waren das 600. Wie die Aufteilung unter den Geschlechtern sein sollte, haben wir gestern in der Zeitung lesen können. Vorausgesetzt wurde dabei, dass sie alle den gleichen Konfessionsstand hatten, d.h. evangelisch-reformiert waren.

3. Bei der Finanzierung hatte also die Gemeinde die Hauptlast zu tragen. Natürlich wurden Spender gesucht. Aber die waren auch damals rar. Wäre die Gemeinde eine Patronatsgemeinde gewesen, hätte sie auf ihren Patron hoffen können. Er hätte ihr mit Geld und Sachleistungen helfen können. Aber hätte man nicht andere Gemeinden um eine Kollekte für den Neubau der Vollmarshäuser Kirche bitten können? Auch diese Möglichkeit, die in Kurhessen als eine solidarische Hilfe verstanden und genutzt wurde, schied aus. Dort war man nämlich auch am Bauen. In jener Zeit wurden in Kurhessen 72 Kirchen gebaut. So kam es, wie zu erwarten: Am Ende blieb die Gemeinde allein auf den Kosten sitzen, und musste dafür alle Äcker verpfänden. Die Ablösung der Pfänder dauerte noch Jahre.

4. Auch der Neubau der Kirche zog sich hin, und als sie am Sonntag nach Weihnachten 1838 endlich eingeweiht wurde, war sie nur halbfertig, wie der Baufachmann Günter Kruse abschließend feststellte.

II. Das Jahr 1838 in der Rückschau.

Haben wir in einem knappen Rückblick noch einmal die schwierige Baugeschichte rekonstruiert, so will ich jetzt den Blick in die damalige Zeit und damalige Welt richten. In der Geschichtswissenschaft hat dieser Zeitabschnitt zwei Namen: es ist die Zeit des Biedermeier und die Zeit des Vormärz. Mit Vormärz wird der Zeitraum zwischen 1815 und 1848 von den Historikern bezeichnet. Es geht um eine oberflächlich betrachtet ausgesprochen ruhige, im Unter- und Hintergrund aber um eine recht dramatische Zeit mit vielen schwierigen Vorsätzen. Beginnen wir mit dem Jahr 1815. Im Frühjahr tagte in Wien ein Friedenskongress. Das Kaiserreich Frankreich unter Napoleon Bonaparte war im Vorjahr untergegangen. Europa musste neu geordnet werden. Dieser Aufgabe stellte sich der Wiener Kongress. Nach vielen Kriegen sollte eine Epoche des Friedens beginnen. Darin waren sich die Mächtigen völlig einig. Aber wie sollte das gehen? Die Großmächte fanden auch eine gemeinsame Lösung: Der Kaiser von Österreich, der Zar von Russland, der König von Preußen kamen überein, ihre Länder wieder christlich zu regieren. Sie waren fest überzeugt, damit für Gerechtigkeit, Friede und Wohlstand die besten Voraussetzungen zu setzen und auch die Gefahr einer Revolution damit für immer zu bannen. Die große Französische Revolution von 1789 mit ihren abscheulichen Gräueln sollte eine einmalige Katastrophe bleiben. Doch die Herren sollten sich schwer irren. Das eben begonnene 19. Jahrhundert erlebte neue Revolutionen. Sie sollten freilich nicht so blutig verlaufen wie am Ende des 18. Jahrhunderts die Revolution in Frankreich.

Schon das laufende Jahr 1815 brachte Not und Elend.

1815 ging in die Geschichte ein als "das Jahr ohne Sommer", Auch die folgenden Jahre waren voller Naturkatastrophen. Verregnete Sommer, Missernten, Hungersnöte, Mangel an allem lebenswichtigen. Die Menschen damals erkannten nicht den Grund; wir wissen heute mehr. Im April 1815 war auf einer kleinen Insel im damaligen "Niederländisch Indien", dem heutigen Indonesien ein Vulkan ausgebrochen, der "Tamborall • Riesige Mengen von Erde, Staub, Gestein wurden in die Atmosphäre geschleudert. Dort haben sie noch jahrelang die Sonneneinstrahlung behindert, und so kam es nur zu sehr kargen Ernten, vor allem traf es das Getreide. Noch war auf die anderen Grundlagen für die Ernährung: auf Kartoffeln und Hülsenfrüchte Verlass: Als in den 1840er Jahren eine Pflanzenkrankheit - die Kartoffelfäule - auch in Kurhessen ausbrach, gab es auch hier bald keine ausreichenden Ernten. Von 1815 an war Kurhessen von einer allgemeinen Armut beherrscht, insbesondere im Volk. Dafür fand man sogar einen eigenen Begriff: Pauperismus. Er ergriff alle Länder mehr oder weniger. Kurhessen, aber musste besonders darunter leiden. Die Entstehung und Ausbreitung der allgemeinen Armut, das Pauperismus, hatte einen Hauptgrund in schlechten Ernten, es kam aber noch ein anderer Faktor ins Spiel. In der Landgrafschaft Hessen-Cassel hatte sich eine stattliche Leinenmanufaktur entwickelt. Gerade auf dem Lande wurde Flachs angebaut und in vielen Häusern an Handwebstühlen zu Leinenstoffen verwebt. Diese wurden nach England und auch nach Amerika exportiert. Dieser Außenhandel fand ein jähes Ende, als Kaiser Napoleon 1806 Exporte nach England verbot: Die bekannte Kontinentalsperre verhängte. Hatte man nach Napoleons Abgang gehofft, die alten Exporte wieder aufleben zu lassen, so wurde bald schmerzhaft deutlich, dass man eine technische Entwicklung verpasst hatte. In England war der mechanische Webstuhl erfunden worden, und dort webte man die in der Kolonie Ägypten in großer Menge gewachsene Baumwolle. Die so hergestellten Stoffe waren billiger und flauschiger als steifleinene Stoffe aus Kurhessen. Sie waren im Konkurrenzkampf unterlegen, und konnten in der allgemeinen Armut keine Abhilfe schaffen. Wer aber konnte Abhilfe schaffen? Aller Augen richteten sich auf die Obrigkeit. Von ihr wurde Hilfe erwartet. Zahlreiche Gesuche um Hilfe gingen in Kassel ein.

Es lohnt sich an dieser Stelle einen Blick auf die Herrscher zu werfen. Viele waren rangmäßig aufgestiegen. Aus dem Landgrafen von Hessen-Darmstadt war ein Großherzog geworden; der Landgraf von Hessen Cassel hatte sogar den Rang eines Kurfürsten mit der protokollarisch korrekten Anrede "Königliche Hoheit" erreicht. Dem plötzlich ausgebrochenen Pauperismus standen sie hilflos gegenüber.

Mehr als einen leidigen Trost: "Es wird schon wieder besser werden", hatten sie nicht. Das musste im Volk zu Unzufriedenheit, Unruhe, ja Aufruhr führen, insbesondere wenn noch agitatorisch die Stimmung angeheizt wurde. Auf der Seite der Obrigkeit stand der feste Willen, ja keine Bewegung zuzulassen, die auf Veränderung gerichtet war. So kam es zu einer Politik, die nicht nur konservativ, sondern reaktionär war. Das führte zu einem Ergebnis- wie so oft in der Geschichte - dass das Gegenteil erreicht wurde.

1830 wurde wieder Frankreich und dieses Mal auch Deutschland von einer neuerlichen Revolution erschüttert. Sie ist nicht sehr bekannt, hinterließ aber durchaus Spuren. Die Regierungen reagierten nicht hilflos und stur. Es kam zu Zugeständnissen. Die Abhängigkeit der Bauern von den Landbesitzern mit den gewohnten Fron-, und Spanndiensten, sowie den sonstigen Abgaben wurde ein Stück weit abgebaut.

1832 wurde in Kurhessen eine Landeskreditkasse gegründet. Für die wirtschaftliche Entwicklung war das ein kräftiger Impuls. Sie wird für den Vollmarshäuser Kirchenbau einen notwendigen Kredit gegeben und dafür als Sicherheit die Äcker als Pfänder in Empfang genommen haben.

Das war das Ergebnis der Revolution von 1830. Man sieht, Revolutionen waren nicht abgeschafft oder gar überflüssig; sie waren jetzt auch eine politische Möglichkeit für Deutschland. Anfang 1848 war es schon wieder soweit.

Um die Freiheitsrechte, um die deutsche Einheit und um die wirtschaftliche Unabhängigkeit des städtischen Bürgertums ging es in der nächsten Revolution. Sie entstand im März 1848. Deshalb wird die Zeit, die vom Wiener Kongress 1815 an darauf zulief, Vormärz genannt. Die damaligen revolutionären Geister versammelten sich zur ersten Deutschen Nationalversammlung in der Paulskirche in Frankfurt.

Kehren wir nach Vollmarshausen zurück. Unsere Kirche wurde also in einer Epoche zwischen restaurativem Rückblick und revolutionärem Aufbruch gebaut. Die aufgezeigten Gegensätze hatten in unterschiedlichen Milieus ihre Heimat. Große Sympathie für revolutionäres Denken gab es in größeren Städten. In Kurhessen etwa in Kassel und Hanau. Auf dem flachen lande bevorzugte man das Herkömmliche. Damit komme ich zur Bedeutung der Biedermeierzeit. Dort geht es um das kleine Glück, alte Häuser, eine einladende Bescheidenheit, eine enge Nachbarschaft. Symbol sind die Butzenscheiben, gut bekannt der Maler Carl Spitzweg.

 

III. Die Vollmarshäuser Kirche und ihre geistige Umwelt

In diese Welt wurde in den 1830er Jahren auch die Kirche, deren Geburtstag wir in diesen Tagen feiern, gebaut. Mit ihrem klassizistischen Stil verkörpert sie vielleicht nichts Revolutionäres, aber etwas Bestimmendes, Markantes, sie beansprucht, das Zentrum des Dorfes zu sein. Die alten kleinen Häuser um sie herum vertreten bis heute das eher Biedermeierliche. Im Biedermeier hatte in jenen Jahren auch eine neu erstarkte Frömmigkeit wieder ihren Platz gefunden. Ihren ergreifenden Ausdruck hat sie in einem Lied gefunden, das in großer zeitlicher Nähe zu unserem Kirchenbau 1837 von Wilhelm Hey, einem Pfarrer, im gar nicht so entfernten Thüringen, gedichtet wurde. Sie kennen es alle, denn es ist zu einem richtigen Ohrwurm geworden, und es passt in diesen schönen Sommertag. Damit sollen meine Betrachtungen ihr Ende finden:

 "Weißt du, wie viel Sternlein stehen an dem blauen Himmelszelt? Weißt du, wie viel Wolken ziehen weithin über alle Welt? Gott, der Herr, hat sie gezählet, dass ihm auch nicht eines fehlet an der ganzen großen Zahl. Weißt du, wie viel Mücklein spielen in der heißen Sonnenglut, wie viel Fischlein auch sich kühlen in der hellen Wasserflut? Gott, der Herr, rief sie mit Namen, dass sie all ins Leben kamen, dass sie nun so fröhlich sind. Weißt du, wie viel Kinder frühe stehn aus ihrem Bettlein auf, dass sie ohne Sorg und Mühe fröhlich sind im Tageslauf? Gott im Himmel hat an allen seine Lust, sein Wohlgefallen; kennt auch dich und hat dich lieb."

 

Ich danke Ihnen! 

 

Prof. Dr. Herbert Kemler